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Lesetipp: Albert Einstein – „Was aber ist die Zeit?“

von Redaktion am 9. Juni 2015

Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie ist im „Lichtjahr“ 2015 einer der gefeierten Jubilare der Wissenschaftsgeschichte. Institutionen, Verlage und Medien würdigen den grossen Physiker im Rahmen der populären Wissenschaftskommunikation mit Veranstaltungen, neuen Publikationen und Neuauflagen sowie mit mehr oder weniger gelungenen Artikeln. Als einen ganz besonderen Lesetipp empfiehlt die RelativKritisch Redaktion das kurze wie prägnante Interview, das Arno Widmann mit Jürgen Renn zu einem zentralen Begriff der Relativitätstheorien geführt hat: „Was aber ist die Zeit?“
Der Interviewer Arno Widmann ist ein erfahrener Journalist und Schriftsteller.[1] Der Interviewte Jürgen Renn ist Wissenschaftshistoriker und Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG).[2][3], Mitherausgeber der Collected Papers of Albert Einstein[4], Honorarprofessor und Autor.

Relativitätstheorie - Jürgen Renn und Arno Widmann im Gespräch

Relativitätstheorie – Jürgen Renn und Arno Widmann im Gespräch

„Was aber ist die Zeit?“ – Intuitiv hat jeder Mensch eine für sich plausible Vorstellung von diesem Phänomen. Zahlreiche Publikationen füllen die Regalmeter der Bibliotheken, ohne die bei näherer Betrachtung gefühlte Verwirrung auflösen zu können, deren sich Laien ausgesetzt sehen, wenn sie mit der Frage nach der Zeit in modernen physikalischen Theorien konfrontiert werden. Jürgen Renn gelingt es auf sparsamen Raum, diese intuitiven Zeitvorstellungen und subjektiven Zeiterfahrungen wissenschaftshistorisch in die soziologischen und psychologischen Konzeptionen zu differenzieren, diese aus der philosophischen Überhöhung zu lösen und mit der physikalischen Zeit zu integrieren. In bestechender Weise prägt Renn der Diskussion auch die ethnologische Komponente auf, die eine Kulturabhängigkeit von Zeitbegriffen erfasst. Und das nicht nur zwischen global verteilten Lokalisierungen. Sie erschliesst auch jene Konfrontationslinien, die zwischen Vertretern des naturwissenschaftlichen Mainstream und exponierten Einstein-Gegnern dauerhaft virulent bleiben.[5]

Jürgen Renn entwickelt darüber eine nachdenkenswerte These, der die physikalisch innovative Relativitätstheorie über den Zeitbegriff zum Brückenbauer zwischen den oft gegenseitig als unverträglich wahrgenommen Wissenschaftsdomänen erhebt: „Es gibt fließende Übergänge zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Das gilt auch für die Konzepte von Raum und Zeit.“ Die Parallelen zwischen der Konstruktion einer Relativität der Gleichzeitigkeit bei Einstein ähnelt der unvermeidbaren Bestimmung des subjektiven Zeitbegriffs, der sich bei individuellen oder gruppenspezifischen Entwicklungsprozessen als notwendig erweist, sobald sich begrenzte Zeiterfahrungen und vage Zeitvorstellungen definitiv als nicht mehr ausreichend erweisen: „Wissenschaftliche Theorien vermitteln die unterschiedlichsten Zeiterfahrungen miteinander. Sie absorbieren immer neue Erfahrungen, schmelzen sie ein in einen immer umfassenderen Zeitbegriff. […] So geschah es im Falle der Relativitätstheorie!“
Jürgen Renn betont damit in diesem Interview das Gemeinsame von psychologischer und soziologischer Zeit auf der einen Seite, wie sie beispielhaft in den wegweisenden Arbeiten von Jean Piaget[6] oder Norbert Elias[7] beschrieben wurde, und dem sich über die letzten Jahrhunderte hinweg entwickelnden Zeitbegriff der Naturwissenschaften auf der anderen Seite. Was aus sozialwissenschaftlicher Sicht zwar durchaus als Methode der sozialen Koordination und Kognition betrachtet wird, ist in Renns Betrachtung oft zu bescheiden auf einen rein intuitiven Prozess reduziert worden. Dagegen seien die soziologischen und entwicklungspsychologischen Zeitbegriffe als „hochartifizielles begriffliches Konstrukt“ das Ergebnis komplexer intellektuell und kulturell regulierter „Kondensationen von Menschheitserfahrungen“, die gegenüber der physikalischen Theoriebildung durchaus anschlussfähig sind: „Die Parallelen zu Einstein sind hier sehr deutlich, denn er war ja auch zu der Einsicht gezwungen, dass der Begriff der Gleichzeitigkeit ein kompliziertes Konstrukt ist, das nicht ohne weiteres von einem Bezugssystem auf ein anderes übertragen werden kann.“

Vernachlässigt wird das Trennende, als eine Verkürzung der Kulturgeschichte der Zeit, wohl als Zugeständnis an den vorhandenen Platz, der für dieses Gespräch zur Verfügung stand. Auch die Vorstellung einer absoluten Zeit als Begriff ist zwar rein menschlichen Ursprungs. Ein Ursprung, der jedoch jünger ist, als mutmasslich angenommen wird, da sie in frühen Stufen der Zivilisation nicht begründet ist. Der Begriff einer absoluten Zeit setzt schon die Standardisierung des Zeitenlaufs als Mittel der sozialen Regulierung voraus. Gemeinsame Massstäbe, gewonnen aus der kognitiven Verarbeitung von Naturabläufen und über technische Instrumente kommuniziert, führten zu einer folgenreichen Objektivierung der Zeit als den Menschen äusserliche Gegebenheit, korrespondierend zum zunächst euklidisch aufgespannten Raum. Paradoxerweise gab es wissenschaftshistorisch auf beiden Seiten einen Trend zu dieser philosophischen Überhöhung des Zeitbegriffs. Auf der Seite der Gesellschaftswissenschaften die Tendenz, die Transformation von individuellen und sozialen Zeitvorstellungen unabhängig von kulturellen Bindungen als „universal-menschliche Prozesse“ zu betrachten. In den Naturwissenschaften behauptete sich trotz allen Fortschritts die Implementierung, Raum und Zeit als metaphysische Konstituanten einer unabhängigen Theaterbühne des kosmischen wie menschlichen Geschehens beizubehalten. Ein überkommenes Konzept das aufgrund der Rücksichtnahme auf religiöse Bedenken noch die von Isaac Newton revolutionierte Weltauffassung und klassische Physik dominierte. Auf dieser Bühne des Welttheaters spielte die damalige Physik ihre Erfolgsgeschichte, bis sie bekannterweise Ende des 19. Jahrhunderts in der Elektrodynamik vor gravierende Probleme gestellt wurde. Und bis Einstein kam.


Publikationen

  • Widmann, Arno, 2015: Was aber ist die Zeit? Gespräch über Einsteins Relativitätstheorie, in: Berliner Zeitung, 31.05.2015
  • Diskutiere über den Lesetipp: Albert Einstein – „Was aber ist die Zeit?“ auch im Forum Alpha Centauri!

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9 Kommentare | Kommentar schreiben
 
  1. #1 | Noblinski | 20. Juli 2021, 08:20

    „Im Galileo-System befinden sich Atomuhren, die auf die Nanosekunde genau
    sind. Und es geht noch mehr: „Die im Institut für Quanten­technologien
    entwickelten Jod-Laseruhren werden um ein Vielfaches genauer sein als
    andere Systeme“, sagt Felix Huber vom Galileo Kompetenz­zentrum im
    Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)“

    Kurze Frage: Ist das den Einsteinfanatikern hier peinlich?

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  2. #2 | Martin Raible | 20. Juli 2021, 08:55

    Wieso soll das peinlich sein?

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  3. #3 | Noblinski | 20. Juli 2021, 12:29

    Hallo! Freut mich, dass jemand da ist.
    Nun, das Noblinskanische Zeitalter hat begonnen. Jeder kann überall leicht feststellen, wo er sich befindet und zu welcher Einheitszeit. Das bedeutet doch, dass alle Einsteinschen Versuche nicht mehr durchzuführen sind. Der Albert hat ja nichts darüber gesagt, welche Eigenschaften die Uhren nicht haben dürfen, mit denen unsere Zeit gemessen wird. Der viel gehörte Satz, dass die Satellitennavigation die RT gut bestätigt, ändert im Grunde nichts daran. Ich hoffe, Galileo der Achtsame ist nicht inzwischen an einer verbreiteten Seuche zugrunde gegangen?

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  4. #4 | Martin Raible | 20. Juli 2021, 14:00

    Felix Huber hat nur gesagt, wie genau die Uhren sind. Er hat nicht gesagt, dass es eine Einheitszeit gibt.

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  5. #5 | Noblinski | 20. Juli 2021, 21:45

    Ja gut, aber macht denn die hohe Genauigkeit Sinn, wenn die Uhren nicht ebenso genau synchronisiert wären? Es ist hier doch nicht der Zweck, der die Mittel heiligt, sondern eher umgekehrt. Die galaktische Allianz wird genau Obacht geben, ob wir damit den Langstreckenfunk stören. Auf der Erde brauchen wir das eh nicht, denn satellitengesteuerte autonom fahrende Autos sind Unfug. Die Frage ist doch, hätte Einstein etwas anders gesehen, wäre er damals in Besitz solcher Zeitgeber gewesen? Wäre er je auf die Idee gekommen, Zeit und Raum seien relativ?

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  6. #6 | Martin Raible | 20. Juli 2021, 22:30

    Einstein wird nicht dadurch widerlegt, dass Felix Huber sagt, wie genau die Atomuhren sind.

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  7. #7 | Noblinski | 21. Juli 2021, 10:29

    Danke für die Auskunft! Es gibt also nichts neues unter der Sonne.

    Ich wünsche Ihnen allen noch ein paar gute Tage bis zur Apokalypse!

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  8. #8 | Herr Senf | 21. Juli 2021, 20:55

    na immerhin, hat Noblinski nebenbei 6 Jahre Zeitdilatation bewiesen, beeindruckend

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  9. #9 | Martin Raible | 22. Juli 2021, 23:35

    Das ist doch besser als Noblinskis Spekulationen:

    „Galileo-Satelliten beweisen ein Schlüsselelement von Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie“
    https://www.esa.int/Space_in_Member_States/Germany/Galileo-Satelliten_beweisen_ein_Schluesselelement_von_Albert_Einsteins_Allgemeiner_Relativitaetstheorie
    „Das weltweit genutzte europäische Satellitennavigationssystem Galileo erweist der globalen Physiker-Gemeinde nun einen historischen Dienst. Dank des Systems wurde ein Schlüsselelement von Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie so genau wie noch nie gemessen, nämlich wie sich die gravitative Rotverschiebung auf den Lauf der Zeit auswirkt.“

    „Zwei europäische Teams aus der Grundlagenphysik arbeiten parallel an diesem Projekt und haben unabhängig voneinander die Messgenauigkeit des durch die Schwerkraft angetriebenen Zeitdilatationseffekts, die sogenannte gravitative Rotverschiebung, um mehr als fünf Mal verbessert.

    Das renommierte Fachmagazin Physical Review Letters veröffentlichte erst kürzlich die unabhängigen Forschungsergebnisse beider Konsortien. Die Forschungsergebnisse basieren auf den Daten von einem Paar Galileo-Satelliten in elliptischen Umlaufbahnen, die über einen Zeitraum von mehr als 1.000 Tagen gesammelt wurden.“

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