Stellenwert der Mathematik in der Physik

 
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Karl
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BeitragVerfasst am: 26.12.2006, 21:44    Titel: Stellenwert der Mathematik in der Physik Antworten mit Zitat

Hallo Alpha Centauri,

hiermit entspreche ich dem Wunsch von M_Hammer_Kruse und eröffne zum Thema Stellenwert der Mathematik in der Physik hier einen eigenen Thread. Als Einleitung eine Zusammenfassung der bereits geposteten Beiträge:


Zitat:

Papa Ropota schrieb am 25.12.2006 14:25 Uhr:
Zitat JoLo:

Was hat es für diese Diskussion zu tun, dass ich weder Mathematik noch ein naturwissenschaftliches Fach studiert habe?

Antwort: Viel!
Denn genau das ist der wunde Punkt, die Crux, der Ursprung des Übels, fons et origo mali ...




Zitat:

Tina schrieb am 25.12.2006 15:21 Uhr:
Ralf, kannst du nicht mal eine schöne Definition heraussuchen, die so ganz ohne Interpretationsspielraum daher kommt?

So etwas wie 0!:=1, nur noch schöner?

Evtl. würde es aber schon helfen, zu erklären, was mit Mathematik eigentlich gemeint ist...
Es gibt Schulmathematik und Ingenieursmathematik, beides ist gleich Rechnen. Wobei letztere doch schon etwas tiefer geht, aber immer noch nur an der Mathematik kratzt.
Und dann gibt es da noch etwas, das nennt sich höhere Mathematik. Und das hat so überhaupt nichts mehr mit dem zutun, was in der Schule als Mathematik verkauft wird.


Aber wir können gern mal drüber diskutieren, wie man 0!:=1 interpretieren sollte....





Zitat:

Miriam schrieb am 25.12.2006 15:29 Uhr:
Vielleicht sollte man bei Auswahl des Beispiels auch auf die Lopezsche Eigenschaft als Größte Logikerin aller Zeiten eingehen.






Zitat:

Tina schrieb am 25.12.2006 15:50 Uhr:

Zitat:

Die ganze Geschichte der Logik besteht in der Definition eines akzeptablen Begriffs der Dummheit.


Eco, Umberto (1989). Das Foucaultsche Pendel. S. 81.

Hm. Wie soll man denn den Satz jetzt interpretieren?
http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/DENKENTWICKLUNG/Logik.shtml





Zitat:

zeitgenosse schrieb am 25.12.2006 21:40 Uhr:

Zitat:

Tina schrieb am 25.12.2006 15:21 Uhr:
Es gibt Schulmathematik und Ingenieursmathematik, beides ist gleich Rechnen. Wobei letztere doch schon etwas tiefer geht, aber immer noch nur an der Mathematik kratzt.



Ingenieursmathematik bedient sich durchaus der Algorithmen der höheren Mathematik:

http://www-hm.ma.tum.de/integration/course/html/ch2/home.htm

Selbstverständlich gibt es Stufen. Am Besten beginnt man mit Papula:

"Mathematik für Ingenieure und Naturwissenschaftler" (3 Bände, Vieweg Verlag).

Wenn du mir dann den "freien Fall mit Stokes-Reibung" - unter Berücksichtigung der zunehmenden Luftdichte - richtig berechnen kannst, reden wir wieder über die "an der Mathematik kratzende" Ingenieursmathematik.

Ein anderes Beispiel: Berechne, wie lange es dauert, bis sich eine kirschrot glühende Kugel aus Temperguss (Durchmesser 10 cm) durch Strahlungsemission auf eine Umgebungstemperatur von 20° C abgekühlt hat. Wenn du das hier korrekt vorrechnen kannst (Ingenieursmathematik genügt dazu vollauf), zolle ich dir meinen ausgesprochenen Respekt.

Wem das zuwenig ist ist, greife in der Folge zu Fischer/Kaul:

"Mathematik für Physiker" (auch 3 Bände, Teubner Verlag).

Band 3 (Variationsrechnung und Differentialgeometrie) dürfte auch für die meisten frischgebackenen Physiker eine Herausforderung sein.

Und wem das noch immer nicht genügt, muss freilich die "reine Mathematik" bemühen und sich - wie bpw. Ramanujan - im Kopfe (dem Tempel des Geistes) Modulfunktionen und dergleichen vorstellen usw. Für die experimentelle Physik wie auch für die Ingenieurswissenschaften (die die Menschheit erst auf den Mond brachten) dürfte das aber doch zu wenige nütze sein.

Gr. zg




Zitat:

Tina schrieb am 25.12.2006 21:44 Uhr:
Ich hab ein paar Semester Ingenieursmathematik erlebt... "Echte" Mathematik ist immer noch was anderes. Das eine konnte ich mal ganz gut, das andere...naja.


Wie auch immer, das, was jemand mit nur Schulmathematik im Kopf unter Mathematik versteht, hat mit Mathematik ungefähr so viel zu tun, wie ne Tütensuppen mit einem 5-Gänge-menue von einem Sterne-Koch.




Zitat:

zeitgenosse schrieb am 25.12.2006 21:55 Uhr:

Zitat:

Tina schrieb am 25.12.2006 21:44 Uhr:
Ich hab ein paar Semester Ingenieursmathematik erlebt...



Dann solltest du mit meinen zwei elementaren Beispielen keinerlei Schwierigkeiten haben.

p.s. Vielleicht bist du aber auch einfach in der falschen Vorlesung (Vordiplomsmathematik für Lebensmittel-Ingenieure vielleicht?) gewesen. Smile

Gr. zg




Zitat:

as_string schrieb am 25.12.2006 21:59 Uhr:
Hallo Zeitgenosse!

Deine beiden Beispiele sind doch genau das, was Tina mit "rechnen" bezeichnet. Das ist sicherlich auch ein Teil der Mathematik und keiner hat bestritten, dass das beliebig kompliziert werden kann.
Aber es ist eben doch "nur" eine Anwendung.
Ich persönlich verstehe unter Mathematik eigentlich auch eher etwas anderes.

Gruß
Marco




Zitat:

Tina schrieb am 25.12.2006 22:26 Uhr:
Stimmt, die Beispiele sind Berechnungen. Es war übrigens Mathematik für Bauingenieure Smile

Wenn ich Mathematik höre, denke ich u.a. an Beweise. Auf jeden Fall nichts, was davon abhängig ist, wieviele Äpfel im Korb sind.




Zitat:

zeitgenosse schrieb am 25.12.2006 23:13 Uhr:

Zitat:

as_string schrieb am 25.12.2006 21:59 Uhr:
Ich persönlich verstehe unter Mathematik eigentlich auch eher etwas anderes.



WAS denn, wenn ich fragen darf?

Gr. zg




Zitat:

zeitgenosse schrieb am 26.12.2006 00:33 Uhr:

Zitat:

Tina schrieb am 25.12.2006 22:26 Uhr:
Stimmt, die Beispiele sind Berechnungen.



Nein, eben nicht nur (du hast mich gründlich missverstanden); denn es geht darum, unter bestimmten Randbedingungen mittels des Instrumentariums der Mathematik (eine Dienerin soll sie sein, nicht mehr) eine physikalisch akzeptable Lösung zu finden. Darum auch, unter den möglichen die zutreffende Stammfunktion zu erkennen (die Kunst des Integrierens eben). Mit "rechnen" nach Adam Riese hat das insofern nichts - aber auch gar nichts! - zu tun.


Zitat:


Wenn ich Mathematik höre, denke ich u.a. an Beweise. Auf jeden Fall nichts, was davon abhängig ist, wieviele Äpfel im Korb sind.



Der strenge Beweis ist das eine (und führt zuweilen in die geistige Umnachtung wie bei Bolyai dem Aelteren), die nutzbringende Anwendung das zweite. Mathematik um ihrer selbst willen ist zwar nicht gerade Zeitverschwendung, aber doch sehr weltfremd. Und zuweilen - wie bereits gesagt - nicht immer ungefährlich, wenn man sich Cantors Kontinuum-Hypothese (die ihn ins Irrenhaus brachte) oder die "Gallerie mathematischer Monster" vor Augen führt.

Wieviele Aepfel im Korb sind, interessiert mich zwar auch nicht primär. Hingegen interessiert, bei welchem minimalen Verbrauch von Korbmaterial das grösste Volumen resultiert. Eine Frage, die seinerzeit Kepler umgetrieben hat, als es um die österreichischen Weinfässer (die "dolia austriaca") ging. Daraus entstand dann eine grandiose Arbeit über Umdrehungskörper, aus der selbst du noch einiges lernen könntest.

Ein guter Physiker ist immer auch mit mathematischer Intuition beseelt (siehe Einstein in seinen späteren Jahren). Das Umgekehrte ist meist nicht gegeben. Die meisten Mathematiker haben keine physikalische Intuition (siehe Hilberts Irrtümer bezüglich Mies Feldtheorie). Ausnahmen gibt es natürlich, wie Poincaré (den wir übrigens zu den grossen französischen Ingenieurs-Gelehrten zählen). Kennst du die Beweisführung für die Poincaré'sche Vermutung?

Ich halte es in diesen Dingen gerne mit Leibniz und Bernoulli (Brachistochrone-Problem) oder mit Euler (Königsberger Brückenproblem). Stets soll aus der Beschäftigung mit der Mathematik auch eine Anwendung resultieren. Siehe dazu v. Neumann (Automatentheorie, Spieletheorie usw.). Mathematik um ihrer selbst willen ist wie Latein um des Lateinums willen, ziemlich geistlos eben!

Was mich aber besonders gestört hat an deiner saloppen und leicht herablassenden Redeweise, ist die Verkennung der Ingenieursmathematik. Denn diese kann sich auf sehr hohem Niveau bewegen. Denk nur an das Dreikörperproblem oder Maxwells Quaternionen-Darstellung der Elektrodynamik.

Weshalb wohl hat Maxwell in seiner "Treatise" gerade die Hamiltonschen Quaternionen benutzt? Mathematiker, du bist gefordert!

Gr. zg




Zitat:

Tina schrieb am 26.12.2006 07:48 Uhr:

Zitat:

zeitgenosse schrieb am 26.12.2006 00:33 Uhr:

Zitat:

Tina schrieb am 25.12.2006 22:26 Uhr:
Stimmt, die Beispiele sind Berechnungen.



Nein, eben nicht nur (du hast mich gründlich missverstanden); denn es geht darum, unter bestimmten Randbedingungen mittels des Instrumentariums der Mathematik (eine Dienerin soll sie sein, nicht mehr) eine physikalisch akzeptable Lösung zu finden. Darum auch, unter den möglichen die zutreffende Stammfunktion zu erkennen (die Kunst des Integrierens eben). Mit "rechnen" nach Adam Riese hat das insofern nichts - aber auch gar nichts! - zu tun.




Für mich schon. Das ist komplizierter als +-*/, Rechnen mit Kopf einschalten eben.
Hat zugegeben nicht mehr viel mit Schulmathematik zutun. Jedenfalls nicht, wenn es über Einfachintegrale hinausgeht.



Zitat:


Wieviele Aepfel im Korb sind, interessiert mich zwar auch nicht primär. Hingegen interessiert, bei welchem minimalen Verbrauch von Korbmaterial das grösste Volumen resultiert. Eine Frage, die seinerzeit Kepler umgetrieben hat, als es um die österreichischen Weinfässer (die "dolia austriaca") ging. Daraus entstand dann eine grandiose Arbeit über Umdrehungskörper, aus der selbst du noch einiges lernen könntest.




Auch Biologen brauchen Mathematik, im Moment brauch ich aber mehr Geometrie.



Zitat:


Was mich aber besonders gestört hat an deiner saloppen und leicht herablassenden Redeweise, ist die Verkennung der Ingenieursmathematik. Denn diese kann sich auf sehr hohem Niveau bewegen. Denk nur an das Dreikörperproblem oder Maxwells Quaternionen-Darstellung der Elektrodynamik.




Tut mir leid, die fiel mir mal vor langer Zeit leicht. Inzwischen müsste ich mich wieder richtig einarbeiten, alles verschüttet durch Nichtgebrauch. Außerdem beschäftigen sich Bauingenieure nicht sooo sehr mit Elektrodynamik, mehr mit Statik Smile



Zitat:


Weshalb wohl hat Maxwell in seiner "Treatise" gerade die Hamiltonschen Quaternionen benutzt? Mathematiker, du bist gefordert!

Gr. zg



Mein Gebiet ist die Biologie, die Mathematik, die ich hier benötige, hab ich drauf, aber alles andere kostet mich viel, viel Arbeit.




Zitat:

as_string schrieb am 26.12.2006 15:16 Uhr:
Hallo Zeitgenosse!

Zitat:

zeitgenosse schrieb am 25.12.2006 23:13 Uhr:

Zitat:

as_string schrieb am 25.12.2006 21:59 Uhr:
Ich persönlich verstehe unter Mathematik eigentlich auch eher etwas anderes.



WAS denn, wenn ich fragen darf?



Für mich persönlich ist es eher Mathematik, wenn man z. B. einen mathematischen Satz beweist, als wenn man komplizierte Differential-Gleichungen löst.
Das kann noch so ein banaler Beweis sein und noch so eine komplizierte DGL. Trotzdem würde ich letzteres immer noch eher als "Rechnen" bezeichnen.
Damit will ich aber nicht sagen, das eine sei mehr "wert" oder "schwieriger" als das andere. Sondern es ist halt einfach meine persönliche Einteilung. Das eine nenne ich "Mathematik" und das andere "Rechnen".
Ich denke auch, dass Tina mit ihrer Aussage nicht wirklich "Ing.-Mathematik" gegenüber "richtiger Mathematik" abwerten wollte. So hatte ich das nicht verstanden. Beides kann beliebig schwierig und auch beliebig trivial werden.
Allerdings wird man wohl beides unter Mathematik verstehen und meine private Einteilung ist eben nicht allgemein gültig. Ich habe aber den Eindruck, dass zumindest Tina auch eine solche Einteilung im Hinterkopf hat.

Gruß
Marco




Zitat:

zeitgenosse schrieb am 26.12.2006 17:16 Uhr:

Zitat:

as_string schrieb am 26.12.2006 15:16 Uhr:
Für mich persönlich ist es eher Mathematik, wenn man z. B. einen mathematischen Satz beweist, als wenn man komplizierte Differential-Gleichungen löst.



Jedem das Seine. Aber wie bereits gesagt, ist das das nur die eine Seite der Münze. Man muss deutlich sehen, dass sich Mathematiker - von der Antike bis zur Gegenwart - immer auch an Problemen versuchten, die einen Bezug zur Realität hatten. Ich denke an Pythagoras und dessen Monochord, an Euklid und die Vermessung von Parzellen, an Archimedes und dessen Kriegsmaschinen, an Apollonios und die Kegelschnitte und damit verbundenen handwerklichen Konstruktionen, an Diophantos und die algebraische Schreibweise, an Alchwarizmi und den mächtigen Algorithmus des indisch-dekadischen Stellenwertsystems der neuen Positionsarithmetik, an Leonardo von Pisa, Sohn des Bonacci, und dessen Fibonacci-Reihen (die an jeder Sonnenblume, an jedem Tannenzapfen, an Muscheln und Schneckengehäusen zu bestaunen sind), an Nicole von Oresme, Raimundus Lullus (Doctor illuminatus) und Wilhelm von Occam - stets fand sich ein Bezug zur Realität der Dinge und nicht nur zum Abstraktum.

Ich denke an den Instrumentenbauer Bürgi, der unabhängig die Logarithmen entdeckte und tabellarisch festhielt, an Descartes und dessen praktikables Koordinatensystem, an Newton und die Infinitesimalrechnung (genauer dessen Fluxionen und Fluenten), an seine mathematische Mondtheorie, an Leibniz und die Kurvendiskussion (was sich in physikalischen Eröterungen mit Bernoulli niederschlug), an Euler, Lagrange und Laplace und die analytische Mechanik, an den grossen Gauß und dessen Berechnung der Bahn des Ceres mittels der Methode der kleinsten Quadrate (nur "Rechnerei"?), an Gauß' "antieuklidische Geometrie", von Riemann fortgesetzt und durch Levi-Civita und Ricci zum mächtigen Kalkulus der Differentialgeometrie entwickelt, seinen fruchtbarsten Niederschlag in der ART findend...

Die strengen Beweise folgten eigentlich erst nach und nach und im Zuge der Axiomatisierung der Mathematik, dem Erlanger Programm, Hilberts Axiomatik, der Mengenlehre Cantors und Freges Ausarbeitung des Logikkalküls, und ach, Namen ohne Zahl kommen mir in den Sinn wie bspw. Grassmann, dessen Einblicke in die Algebra sich erst später auf ganz anderen Gebieten verwerten liessen wie der Quantentheorie, an Hamilton und die Quaternionen, an Weyl und die Eichtheorien, an v. Neumann und den speicherprogrammierbaren Computer... Der Namen sind Legion.

Der strenge Beweis war sozusagen das Nebenprodukt eines ungleichlich produktiveren Strebens nach Einsicht in die tiefsten Dinge der Welt. Nur kleinliche Geister, den Krämerseelen gleich, verbringen ihr Lebtag mit spröder Beweisführung, mit Lemma und Konklusion, dabei entgeht ihnen die Vielfalt der geometrischen Strukturen in der Natur, die Mächtigkeit der Primzahlen für den Urbeginn der Welt und anderes mehr. Nein, tauschen möchte ich nicht mit diesen Kleingeistern. Lieber labe ich mich an der "faustischen Kunst des Integrierens verwickelter Funktionen", der trivialen Ingenieursmathematik, wie sie von Unbesonnen genannt wurde...

Und erinnern wie uns abschliessend an den indischen Mathematik-Autodidakten Srinivasa Ramanujan, der sagte:

"Eine Gleichung ergibt für mich keinen Sinne, es sei denn, sie drücke einen Gedanken Gottes aus."

Zu den schwierigsten Modulfunktionen (an denen sich auch heute noch Diplom-Mathematiker schwer tun) stieg sein Geist hinauf, obwohl er nur mit Not und Hardys äusserer Unterstützung gerade einen Bachelor degree erwerben konnte.

Gr. zg



LG,

Karl
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„Wo ist meine kleine gelbe Chinalackdose?“ Der ganz normale Wahnsinn
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zeitgenosse



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BeitragVerfasst am: 27.12.2006, 03:47    Titel: Antworten mit Zitat

Eigentlich verstehe ich schon, weshalb einige der Meinung sind, die Ingenieursmathematik kratze nur an der Oberfläche der höheren Mathematik (auch wenn das so nicht stimmt).

Auf einen signifikanten Unterschied möchte ich gleich hinweisen. Im Rahmen eines regulären Hochschul- oder auch Fachhochschulstudiums erlernt man die Mathematik meist im Eilverfahren und ohne über die an sich nötige Vertiefungszeit zu verfügen. Das führt in der Folge zum Kuriosum, dass man/frau zwar Vor- wie auch Hauptdiplom bewältigt bzw. den Bachelor erwirbt. Fragt man solche Absolventen aber später, d.h. nach einigen Jahren, nach einer Lösung für ein nicht einmal aussergewöhnliches physikalisches Problem, sind sie in der Regel nicht mehr imstande, eine partielle Differentialgleichung ordentlich zu lösen, geschweige denn eine Integration aus dem Stegreif durchzuführen. Traurig, aber wahr!

Auch das Umgekehrte existiert unglücklicherweise: Personen, die jedes theoretische Problem mit mathematischer Bravour meistern, aber bereits bei den einfachsten Dingen des Alltags kläglich versagen. Zum Beispiel bei der Festlegung der Parameter eines PID-Regelkreises, wo bekanntlich neben den linearen Gliedern auch Integrations- und Differenziergrössen in Erscheinung treten. Hierzu ist nämlich beides gefragt, ein solides wissenschaftliches Fundament aus den Bereichen von Physik und Mathematik und empirisches Erfahrungswissen. Beides ergänzt sich in der Synthese zu einem nutzbringenden Ganzen. Selbst habe ich immer eine gute Ausgewogenheit zwischen Theorie und Praxis angestrebt (denn grau, mein Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens gold'ner Baum, so Goethes Faust).

Deshalb empfehle ich einem jedem, sich zusätzlich über das reguläre Vorlesungswissen hinaus das nötige Rüstzeug im vertiefenden Selbststudium anzueignen. Der Anfänger beginne im Kontext am Besten mit dem Riemann-Integral, um sich dann nach und nach zum Lebesgue-Integral fortzuarbeiten.

Literatur dazu findet sich reichlich, z.B.:

- Heuser, Lehrbuch der Analysis, Bd. 1-2 (Teubner)
- Königsberger, Analysis 2 (Springer)
- Forster, Analysis 3. Integralrechnung im IRn mit Anwendungen (Vieweg)

Man tut gut daran, möglichst viele Lösungen - wie sie in Physik und Technik auf allen erdenklichen Gebieten vorkommen - "im Schweisse seines Angesichts" zu erarbeiten, um eine gewisse Sicherheit zu erlangen. Übung erst macht den Meister. Im Verlaufe eines derartigen Selbststudiums gelangt man irgendwann auch zu den Fourier-Integralen und - insbesondere in der Elektrodynamik - zum Gauß'schen und Stokes'schen Integralsatz. Nützliche Dinge, die man irgendwann gut gebrauchen kann. Und sei's auch nur beim Lesen eines guten Fachbuches. Denn für die Technik selbst genügt allermeist bereits Oberstufenmathematik.

Man könnte als Autodidakt und historisch gesehen wie folgt vorgehen, um sich solide in die Thematik einzuarbeiten:

1. Befassung mit Quadraturproblemen
2. Bestimmung von Stammfunktionen
3. Cauchy-Integral für stetige Funktionen
4. Dirichlet-Integral für nichtstetige Funktionen
5. Riemann-Integral für beschränkte Funktionen
6. Lebesgue-Integral für beschränkte Funktionen auf [a,b]
7. Lebesgue-Integral in R^n

Damit, denke ich, verschafft man sich unabhängig vom Vorlesungsstoff eine solide Arbeitsgrundlage, die auch einem Ingenieur gut ansteht (falls er beruflich nicht gerade nur Bäume pflanzt). Diesen Weg des emsigen Selbststudiums hat übrigens auch Einstein beschritten und sich - nebst den obligatorischen Vorlesungen am Poytechnikum (ETH) - besonders tief in die Maxwell-Hertz'sche Elektrodynamik eingearbeitet. Kein Wunder demnach, dass gerade er die sich entwickelnde Relativitätstheorie zu einem krönenden Abschluss brachte. Zwar ist auch das nicht ganz richtig, weil erst durch Minkowski ein mathematisch sauberes Fundament gelegt wurde. Aber ohne Einstein wäre Minkowskis Theorie über Raum und Zeit wohl in den Schubladen der Mathematiker verstaubt ohne grössere Resonanz zu erzielen.

p.s. Und was ich auch noch sagen wollte: Eigentlich reicht ein Menschenleben nicht aus, um all das zu erlernen, was man wissen möchte. Faust hatte nicht unrecht, als er resumierend klagte:

"Da steh' ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor..."

Mit dieser Einsicht sollten wir uns irgendwann abfinden bevor der grosse Schnitter sein traurig Werk vollzieht.

Gr. zg
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Tina



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BeitragVerfasst am: 27.12.2006, 09:59    Titel: Antworten mit Zitat

Sowohl Heuser als auch Fischer haben in meinem Bücherregal gestanden. Wobei mir der Heuser immer lieber war.

Rechnen hat mir immer Spaß gemacht, das konnte beliebig kompliziert werden. Aber Herleitungen.... zu Hülfe.
Wenn man in einer zweistündigen Analysisvorlesung sitzt und sich die ganze Zeit fragt, was der Typ davorn eigentlich macht, um dann am Ende zu erfahren, dass da gerade die Polynomendivision hergeleitet wurde... das ist frustrierend.
Daher meine Unterscheidung in Rechnen und Mathematik. Das eine kann ich, das andere bereitet mit gewaltige Schwierigkeiten.


Man kann nicht alles erlernen, was man wissen möchte. Stimmt.
Leider. Aber man kann sich zumindest ein gewisses Handwerkszeug zulegen, das einem dabei hilft, Zusammenhänge zubegreifen und vor allem zu erkennen, was man alles nicht weiß.

Etwas zu wissen, heißt, verfügbare Informationen richtig einsetzen zu können.
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Zumindest die Richtung ist jetzt klar: gegen. Alles andere wird sich im Laufe der Zeit noch finden. (Frei zitiert nach WDR5 Spielart,1.5.2006)
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ralfkannenberg



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BeitragVerfasst am: 27.12.2006, 10:53    Titel: Antworten mit Zitat


Zitat:

zeitgenosse schrieb am 27.12.2006 03:47 Uhr:
Auf einen signifikanten Unterschied möchte ich gleich hinweisen. Im Rahmen eines regulären Hochschul- oder auch Fachhochschulstudiums erlernt man die Mathematik meist im Eilverfahren und ohne über die an sich nötige Vertiefungszeit zu verfügen. Das führt in der Folge zum Kuriosum, dass man/frau zwar Vor- wie auch Hauptdiplom bewältigt bzw. den Bachelor erwirbt. Fragt man solche Absolventen aber später, d.h. nach einigen Jahren, nach einer Lösung für ein nicht einmal aussergewöhnliches physikalisches Problem, sind sie in der Regel nicht mehr imstande, eine partielle Differentialgleichung ordentlich zu lösen, geschweige denn eine Integration aus dem Stegreif durchzuführen. Traurig, aber wahr!



Hallo zeitgenosse,

da hast Du leider nicht unrecht. Als Beispiel kannst Du jederzeit mich anführen - ich habe niemals in meinem Studium eine Differentialgleichung gelöst. In Basel macht man das erst im Hauptstudium und in Zürich macht man sowas pflichtmässig nur im Grundstudium. Meine Kenntnisse der Differentialgeometrie sind ebenso wie die der Wahrscheinlichkeitsrechnung haarsträubend, ganz zu schweigen von solchen Sachen wie Masstheorie oder gar Logik, die sowieso kein Pflichtfach war.

Dennoch bin ich ein "gestandener" Mathematiker, der sogar noch mehr Physikkenntnisse hat als meine durchschnittlichen Studienkollegen, weil Physik im Grundstudium in Basel sehr intensiv gelehrt wurde und 80% meiner Zeit in Anspruch nahm ... (notenmässig war es trotzdem umgekehrt ...)

Das ist aber eigentlich nicht das Ziuel des Mathematikstudiums; hier geht es nicht primär darum, Inhalte auswendig zu lernen, sondern Methodiken zu begreifen, wie man sich an eine Aufgabenstellung herantastet; ein ganz wichtiger Punkt - der übrigens den Kommilitonen von der FH/HTL leider fehlt - ist die Erkenntnis in die eigene Unzulänglichkeit, d.h. ein seriöser Mathematiker vermeidet in jedem Fall fehlerhafte Herleitungen. Die Antwort "Ich weiss es nicht" oder "Ich muss das erst einlesen" ist immer eine akzeptable Option, aber das spätere Eingeständnis "O, das Gesetz war in diesem Zusammenhang ja gar nicht anwendbar" ist ein GAU, der unbedingt zu vermeiden ist !

Freundliche Grüsse, Ralf
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zeitgenosse



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BeitragVerfasst am: 27.12.2006, 18:44    Titel: Antworten mit Zitat


Zitat:

ralfkannenberg schrieb am 27.12.2006 10:53 Uhr:

ich habe niemals in meinem Studium eine Differentialgleichung gelöst.

Dennoch bin ich ein "gestandener" Mathematiker



Aeusserst erstaunlich (das erste meine ich). Das zweite glaube ich gerne.

Das Mathematikstudium dürfte sich in den vergangenen Jahren auch gewandelt haben. Von der "reinen Mathematik" kenne ich persönlich niemanden, von der technischen Mathematik (auch "Technomathematik" genannt) kenne ich einen gut. Dort geht es um die Anwendung mathematischer Methoden in Technik und Ingenieurswissenschaften. Computersimulationen sind dazu unerlässlich. Der Schwerpunkt eines solchen Studiums dürfte daher anders gelagert sein, als ein klassisches universitäres Studium der Mathematik. Numerik und Computermathematik sind sicher sehr wichtige Handwerkszeuge für den Technomathematiker.

Wie ich schon sagte, der strenge Beweis ist das eine. Wenn wir dieses Kriterium an Newtons Fluxionsrechnung als auch an Leibniz Infinitesimalkalkül anlegen würden, kämen die beiden nicht so gut weg. Auch bei Euler, einem Virtuosen der Algebra, finden wir zuweilen seltsame Schludrigkeiten (obwohl die Resultate natürlich stimmen). Saubere mathematische Definitionen fehlen oft. Aehnliches gilt für die Methoden von Laplace und Poisson, die für Cauchy zu intuitiv waren. Vom physikalischen Standpunkt waren sie natürlich exzellent.

Man muss auch sehen, dass die Analysis erst durch Cauchy (Cours d’analyse de l’École Polytechnique, 1821) und Lebesgue (Verallgemeinerung des Integralsatzes und Maßtheorie) auf ein stabiles Fundament gestellt wurde. Immer finden sich bei Cauchy auch Bezüge zur Physik (Elastizitätstheorie, Wellengleichungen). Auch wenn das heutzutage weniger bekannt sein dürfte. Als bekannt setze ich aber den Integralsatz von Cauchy voraus.

Selbst befasse ich mich vornehmlich mit praktikablen Lösungen. Ein stets gutes Anschauungsbeispiel dafür ist das sog. Brachistochrone-Problem, aufgeworfen von Bernoulli, gemeistert von Newton, Leibniz, den beiden Bernoullis, de l'Hospital und E.W. von Tschirnhausen (aber auf ganz unterschiedlichen Wegen eben). Eine beachtliche Leistung für die damalige Zeit.

Die Aufgabe lautete in etwa so:

Welches ist die Bahnkurve, auf der ein Massenpunkt im homogenen Schwerefeld ohne andere Kräfte in der kleinsten Zeitspanne von einem höhergelegenen Punkt auf einen tieferen gelangt, wenn sich die beiden Punkte nicht auf der Lotrechten befinden?

Die Antwort lautet bekanntlich: Auf einer Zykloide. Auf einer solchen Kurve durchläuft der Massenpunkt in der kürzest möglichen Koordinatenzeit die angesetzte Höhendifferenz. Auf einer Geraden würde der Massenpunkt, obwohl der Weg kürzer ist, mehr Zeit benötigen. Das Ganze hat zudem mit dem Prinzip der minimalen Wirkung (Fermat, Maupertuis) zu tun, welches auch für die ART (Geodätengleichung, Variationsprinzip) in erweitertem Sinne von Bedeutung ist.

Solcherart betrachtet ist (Ingenieurs)-Mathematik eine Lust und hat nichts mit Einpaukerei und stupider Rechnerei zu tun. Das wollte ich ergänzend noch hinzufügen; denn für mich selbst ist das mechanische Abarbeiten von Rechenschritten auch geisttötend (obwohl es in der Praxis halt oft so läuft). Viel wichtiger war mir stets das tiefere Verständnis der inneren Zusammenhänge eines Algorithmus, was eben erst die "cabbala vera" (um mit Colerus zu sprechen) ausmacht.

Ich meine, dass gerade auch Leibniz die Dinge von einer solchen Warte aus angegangen hat. Das Rechnen nach Adam Riese überliess er lieber den Buchhaltern und Krämerseelen. Für solche kaufmännische Zwecke mochte die von ihm erdachte Rechenmaschine dienen. Aehnlich motiviert hat auch Zuse seine Computer gebaut (zuerst in Relaistechnik, dann mit Elektronenröhren; der Z4 lief ja jahrelang an der ETH Zürich, wenn ich mich nicht täusche). Zuse wollte dadurch die Monotonie statischer Berechnungen in der Bauingenieurskunst für den kreativen Ingenieur angenehmer gestalten und das mechanische Abarbeiten von Formeln dem programmierbaren Rechenknecht überlassen.

Ich denke, dass ich nun meinen Standpunkt verständlich vermittelt habe (auch für Tina). Ansonsten erwarte ich gerne weitere Voten.

Gr. zg
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