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Silvester 2010 – Die Schaltsekunde fällt aus

von Redaktion am 31. Dezember 2010

An Silvester wird es, wie bereits zum letzten Jahreswechsel, unverhofft keine Schaltsekunde geben! Dabei hatten die Wissenschaftler fest damit gerechnet. Ist die Himmelsmechanik ins Stottern gekommen?

Schaltjahre, also genau genommen Jahre mit Schalttagen, sind der Öffentlichkeit nicht nur geläufiger als Schaltsekunden, sie kommen auch mit berechenbarer Regelmässigkeit daher. Sie sind eine Anpassung des Kalenders, die seit Jahrtausenden vorgenommen wird. Dabei ist es egal, welcher Kalender gerade Gültigkeit hat. Das Kalenderjahr ist aus praktischen Gründen ein ganzzahliges Vielfaches eines Sonnentages, damit das Jahr immer genau mit Mitternacht des letzten Tages im Jahr endet und das neue Jahr beginnt. Im derzeit am häufigsten verwendeten Gregorianischen Kalender sind das 365 Tage. Ausser eben in Schaltjahren. In einem Schaltjahr hat der Februar 29 statt 28 Tage und das Jahr damit 366 Tage.

Unser Leben wird hauptsächlich durch zwei astronomische Rhythmen bestimmt. Der erste und wichtigste ist der Tagesrhythmus. Er hat die Länge eines Sonnentages und wird durch die Rotation der Erde festgelegt. Er bestimmt unseren Tagesablauf, wann wir schlafen und arbeiten, wann wir unsere Leistungshöhen und –tiefen haben. Der zweite Rhythmus ist der Jahresrhythmus, der durch die vier Jahreszeiten bestimmt wird und durch die Bewegung der Erde um die Sonne festgelegt ist. Der Bauer muss wissen wann der Frühling beginnt um den besten Zeitpunkt für die Aussaat zu bestimmen. Er muss wissen, wann die jährlichen Nilüberschwemmungen zu erwarten sind. Dafür ist ein Kalender notwendig, der die Zeitpunkte für den Beginn der astronomischen Jahreszeiten korrekt und, sinnvoller Weise, immer zum selben Datum anzeigt. Verursacht werden die Jahreszeiten durch die Neigung der Rotationsachse der Erde relativ zur Bahnebene, in der sich die Erde um die Sonne bewegt.

Allerdings dauert ein astronomisches Jahr, oder genauer gesagt, ein tropische Jahr, nämlich die Zeit, welche die Erde benötigt um auf ihrem Weg um die Sonne den Frühlingspunkt zweimal zu erreichen, nicht genau 365 Tage sondern 365,24219 Tage. Damit wird jedes vierte Jahr ein zusätzlicher Tag eingefügt, um die fehlenden Zeit von 0,97 Sonnentagen zu kompensieren. Wie man sieht ist diese Korrektur jedoch um 0,03 Tage zu hoch, deshalb wird alle 100 Jahre der Schalttag wieder weg gelassen (Säkularjahre).

Kurz gesagt, damit über lange Zeiträume hinweg der Frühling immer noch zu astronomisch und dem Lauf der Vegetation entsprechend anschaulichen Zeitpunkten beginnt, und auch die übrigen Jahreszeiten nicht kalendarisch aus dem Ruder laufen, war und ist es notwendig, die Kalender nachzujustieren. Genau genommen gilt das nur für die höheren Breitengrade der nördlichen und südlichen Hemisphäre. Und da sich die Landmassen und damit die menschlichen Lebensräume auf die nördliche Hemisphäre konzentrieren, ist der Kalender durch Kulturen dieser Weltgegenden dominiert. Als diese kulturgeschichtlichen Kalender aus Europa in die Kolonien jenseits des Äquators exportiert wurden, standen die Jahreszeiten Kopf und so wird auch heute noch der Weihnachtstag in Australien jedes Jahr unter sommerlichen Bedingungen am Strand gefeiert.

Jedes Kind weiss jedenfalls, dass in allen Jahren, deren Jahreszahl durch vier teilbar ist, der 29. Februar als Schalttag eingefügt wird. Eine Ausnahme davon bilden, wie gesagt, lediglich die vollen Jahrhundertjahre z. B. 2000, 2100. Aus diesen sogenannten Säkularjahren erhalten nur diejenigen einen Schalttag, deren Jahreszahl durch 400 teilbar ist. Somit ist nur jedes vierte Säkularjahr auch ein Schaltjahr. Aber was hat es mit der Schaltsekunde auf sich?

Schaltsekunde

Schaltsekunde, Credit: Crohweder

Bis in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts war die Sekunde als 1/86400 eines mittleren Sonnentages definiert. Der mittlere Sonnentag wurde aber aus astronomischen Beobachtungen des 18. und 19. Jahrhunderts gemittelt. Bei der Überführung der Sekunde in das SI-System wurde dieses 200 Jahre alte empirische Mittel dieses Zeittakts mit grösster Sorgfalt beibehalten. Ab 1967 wurde die Zeitmessung über eine völlig andere Methode realisiert, als man erkannte, dass eine vom Sonnenstand und von der Erdrotation abgeleitete Zeitskala zu ungleichförmig und für viele technische und wissenschaftliche Zwecke nicht brauchbar ist. Seitdem wird die SI-Sekunde über eine Resonanz des Cäsiumatoms definiert und gemessen. Präzise Atomuhren, die von geeigneten Instituten und staatlichen Anstalten gepflegt werden, versorgen die Welt seither mit der Internationalen Atomzeit (TAI). Die TAI ist eine unbestechliche gleichförmige Zeittaktung, die von Umwelteinflüssen und himmelsmechanischen Konstellationen unabhängig ist. Für die Schaltsekunde ist eine andere Weltzeit verantwortlich, die Universal Time (UT), die verantwortlich dafür ist, dass in allen Zeitzonen der Erde eine annähernd gleich empfundene „Bürgerliche Zeit“ herrscht, also der Morgen am Sonnenaufgang beginnt, der Mittagshunger zum Sonnenhöchststand eintritt und die Müdigkeit am Ende des Tages mit dem Verschwinden der Sonne hinter dem Horizont einhergeht. Für diese gefühlte Zeit ist die UT1 verantwortlich, die eine präzise Messung des wahren Phasenwinkels der Erdrotation gegenüber astrononomischen Referenzobjekten darstellt. Die UT1 ist deshalb auch für die Astronomie und die Geowissenschaft die entscheidende Referenzzeit. Die Universal Time Coordinated (UTC) ist der Zwitter zwischen UT1 und TAI. Ihr Verlauf ist an die physikalische Referenz des objektiven Sekundentakts der TAI gebunden, ihre distinkten Zeitpunkte sind aber an der UT1 ausgerichtet.

Mond, Space Shuttle Discovery

Vollmond, Space Shuttle Discovery

Die Erdrotation verliert langfristig aufgrund der Gezeitenbremsung durch den Mond an Kraft. Physikalisch findet eine Übertragung von Drehimpuls und Rotationsenergie von der Erde auf den Erdbegleiters statt. Durch Ebbe und Flut dreht sich die Erde auf lange Sicht langsamer während sich der Mond weiter von seinem Mutterkörper entfernt. Aus dem System der UT1 wird die Sekunde gegenüber der unbeeinflussten TAI über die Jahre länger. Da die „Bürgerliche Zeit“ in den Zeitzonen der Erde über die TAI umgerechnet wird, geht damit langsam aber sicher auch die UTC gegenüber der UT1 vor. Um den Menschen ihre gewohnten Verhältnisse zu erhalten, wird daher der UTC nach Entscheidung des International Earth Rotation and Reference Systems Service (IERS) eine Schaltsekunde eingefügt, wenn der Unterschied zwischen UTC und UT1 über 0,9 Sekunden anzuwachsen droht.

Zwei Jahre in Folge wird die Schaltsekunde jetzt ausgesetzt. Warum ist das so? Dem langfristigen Trend der Abbremsung der Erdrotation überlagern sich kurzfristige Effekte, die mit der physikalischen Beschaffenheit der Erde und singulären Ereignissen innerhalb dieses dynamischen Systems zusammenhängen. Man kann sich das sehr anschaulich vorstellen, wenn man ein rohes Ei in Rotation versetzt. Die Erde, weit entfernt davon, eine perfekte starre Kugel zu sein, erfährt chaotisch Unwuchten, die aus internen Masse- und Materialverteilungen resultieren. Spezifische zeitliche Konfigurationen von Erdkern, Erdmantel und Erdkruste, Ungleichgewichte von Feuchtigkeit und Luftmassen in der Atmosphäre, seismische Aktivitäten, aber selbst menschliche Einflüsse wie das Fluten von gigantischen Stauseen haben kurzfristige Effekte auf die Erdrotation. Diese Einflüsse sind naturbedingt kaum vorauszuberechnen. Und deshalb müssen wir auch dieses Silvester wieder auf eine Schaltsekunde verzichten. Die Erde hat sich schneller gedreht als gedacht.

Auf unterhaltsame Weise haben das die ScienceBusters Heinz Oberhummer und Martin Puntigam, die Kommunikatoren des Jahres 2010, in ihrem Silvesterclip dargestellt. Dieser und andere Aktivitäten der Science Busters werden seit neuestem übrigens durch die Kapsch Gruppe, einen österreichischen Konzern der Telekommunikations- und Verkehrstelematikbranche, promotet.

Im Silvesterclip, der als Einstimmung für das Silvester-Special im Wiener Rabenhof Theater geeignet ist, zeigt Science Buster Werner Gruber auch eindringlich, warum es keine gute Idee ist, einen angeriebenen Schweizer Kracher entschärfen zu wollen.

In diesem Sinne, guten Rutsch. Und einen guten Start ins neue Jahr.

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