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Philipp Lenard – Erinnerungen eines Naturforschers

von Redaktion am 13. Mai 2010

Philipp Lenard, Nobelpreisträger für Physik von 1905 und einer der prominentesten zeitgenössischen Gegner Albert Einsteins hatte in den dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts begonnen, seine Lebenserinnerungen aufzuzeichnen. Der Mitbegründer der „Deutschen Physik“ überliess nach dem Zweiten Weltkrieg die unveröffentlichten Typoskripte seiner autobiographischen Schriften einigen Freunden und ehemaligen Schülern, bevor er am 20.05.1947 in Messelhausen verstarb. Mehr als 60 Jahre nach seinem Tod werden Lenards „Erinnerungen eines Naturforschers, der Kaiserreich, Judenherrschaft und Hitler erlebt hat“ nun in einer kritisch annotierten Ausgabe im Springer Verlag veröffentlicht.

Philipp Lenard: Erinnerungen eines Naturforschers

Philipp Lenard: Erinnerungen eines Naturforschers

Philipp Lenards Erinnerungen haben eine abenteuerliche Geschichte hinter sich. Lange Zeit galten die Aufzeichnungen als verschollen. Die Abrechnung der deutschen Physikergemeinschaft mit den Renegaten der „Deutschen Physik“ verhinderte zunächst, dass die Besitzer dieser Typoskripte an die Öffentlichkeit gingen. Erst in den sechziger Jahren trat ein Karl Kuhn an den Physiker und Astronomen Albrecht Unsöld heran und behauptete, über ein Exemplar von Lenards autobiographischen Aufzeichnungen zu verfügen. Unsöld teilte dieses Wissen zunächst mit seiner Doktorandin an der Universität Kiel, Charlotte Schönbeck, und später mit dem Wissenschaftshistoriker Andreas Kleinert. Kuhn überliess Schönbeck leihweise sein Exemplar von Lenards „Erinnerungen“, die sie in ihrer Dissertation „300 Jahre Physik und Astronomie an der Kieler Universität“ 1965 erstmals der Fachwelt vorstellen konnte.
Das Kuhnsche Exemplar der „Erinnerungen“ machte aber noch weiter Karriere. Mit Zustimmung des Nürnberger Besitzers ging das an Schönbeck entliehene Exemplar vor seiner Rücklieferung an Frank Wolf, den Sohn des Astronomen und Studienfreunds Lenards in Heidelberg, Max Wolf. Frank Wolf fertigte unautorisiert einen Mikrofilm des Typoskripts an, dessen Reproduktionen Ende der sechziger Jahre in Umlauf kamen. Der Wissenschaftshistoriker Armin Hermann erwarb eine Rückvergrösserung für die Universität Stuttgart, die in den folgenden Jahren immer weiter verbreitet wurde und an der fehlenden ersten Seite identifiziert werden konnte.

Meine Zeiten sind nicht da. Vielleicht kommen sie später, wenn Wahrheit, Wirklichkeit und damit auch Naturforscher-Denken etwas gelten werden. […] Schade nur, daß Rassenkunde und seine naturgemäße Geschichtsauffassung erst so spät in meiner Lebenszeit aufkamen; ich hätte mich sonst besser und leichter unter den Menschen zurecht gefunden.
(Philipp Lenard, Vorbemerkungen, Erinnerungen eines Naturforschers, Version 1931, p. 10f)

Im Jahr 1974 wurde Andreas Kleinert erstmals die Herausgabe der „Erinnerungen“ durch den Lenard-Freund Heinrich Propfe angetragen, der die Edition auf eigenes Risiko in seinem firmeneigenen Verlag veröffentlichen wollte. Damit begann das nächste spannende Kapitel der Autobiographie Philipp Lenards. Fallstricke des Urheberrechts verhinderten weitere lange Jahre die Publikation der „Erinnerungen“. Lenards Tochter Ruth hatte verfügt, dass Ludwig Wesch, einer der am stärksten mit dem SD und der SS verwobenen Deutschen Physiker, das Erstveröffentlichungsrecht für Lenards Rechtfertigungen und eitler Selbstdarstellung haben sollte.

Erst nach Weschs Tod im Jahr 1994 wurde der Weg frei, sowohl den vierten Band von Lenards „Wissenschaftlichen Abhandlungen“ zu veröffentlichen, als auch seine autobiographischen Schriften zu editieren. Charlotte Schönbeck hat das erste Projekt 2003 mit der kommentierten Herausgabe von Lenards Wissenschaftlichen Abhandlungen, Band 4 realisiert. Im Jahr 1995 trat Andreas Kleinert sein Vorhaben einer kritischen Edition von Lenards „Erinnerungen“ an Arne Schirrmacher ab. Mehr als ein Jahrzehnt beschäftigte sich Schirrmacher mit der Erschliessung zusätzlicher Quellen und weiteren Versionen der autobiographischen Aufzeichnungen Lenards. In einer mustergültigen Edition liegt jetzt allen, die an der konfliktreichen Geschichte der modernen Physik um Einsteins Relativitätstheorien interessiert sind, eine unverzichtbare Quelle vor,

[S]elbst wenn die Lektüre dieses bis heute irritierenden, ja pathologischen Textes eines Briten-Hassers und fanatischen Parteigängers Hitlers manchem eher Kopfschmerzen als Genuss bereiten wird.
(Klaus Hentschel, Schirrmacher, A. (Hrsg.) – Philipp Lenard: Erinnerungen eines Naturforschers, in: Physik Journal (April 2010)

Für Arne Schirrmacher ist diese Publikation eine Etappe. Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Max-Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte ist mittlerweile am Projekt History and Foundations of Quantum Physics beteiligt. Zusammen mit Milena Wazeck, die zuletzt am MPIWG mit ihrer Dissertation über die öffentliche Kontroverse um die Relativitätstheorie in den 1920er Jahren einen wichtigen Meilenstein der Wissenschaftsgeschichte setzte, bringt Schirrmacher den Schwerpunkt der öffentlichen Wahrnehmung der Quantentheorie in das Projekt ein. Die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit kann man mit Spannung erwarten.

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1 Kommentar | Kommentar schreiben
 
  1. #1 | Skeptiker-Radar – 1/2010 | RelativKritisch | 17. September 2010, 13:30

    […] Peter Rösch, verführt, eine Empfehlung für sein Idol, den „Arischen Physiker“ Philipp Lenard […]

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  1. Skeptiker-Radar – 1/2010 | RelativKritisch

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